
Virusinfektionen 255
Infektio-Guide / KAROW PHARMAKOLOGIE 2022 Infektio-Guide / KAROW PHARMAKOLOGIE 2022 Infektio-Guide / KAR
Antiretrovirale Pharmaka sind 5 Substanzgruppen zuzuordnen ( 9.2.8)
− Inhibitoren der reversen Transkriptase (nukleosidische und nukleotidische
Inhibitoren der reversen Transkriptase ≈ NRTI, nicht-nukleosidische Reverse-
Transkriptase-Inhibitoren ≈ NNRTI) verhindern eine Neuinfektion von CD4-Zellen.
− Proteinase-Inhibitoren (PI) hemmen die Abspaltung der HIV-Strukturproteine
und damit den Zusammenbau zum infektösen Virus.
− Integrase-Inhibitoren (Raltegravir) hemmen den Einbau der Virus-DNA in die
menschlichen CD4-Zellen.
− Fusionsinhibitoren (Enfuvirtid ≈ T-20) und CCR5-Inhibitoren (Maraviroc) sind
Entry-Inhibitoren und verhindern das Eindringen von HIV in die Zielzelle.
Durch das verlängerte Überleben (=> längere Therapiedauer) gewinnen Nebenwirkungen zunehmende
Bedeutung. Gruppenspezifische Nebenwirkungen sind:
− bei nukleosidischen Reverse-Transkriptase-Inhibitoren: mitochondriale Toxizität
− bei nicht-nukleosidischen Reverse-Transkriptase-Inhibitoren: Hautrötung
− bei Protease-Inhibitoren: metabolische Störungen (Lipodystrophie-Syndrom, metabolisches Syndr.)
Lipodystrophie:
− NW der antiretroviralen Therapie mit Fettverteilungsstörung (Fettverlust ≈ Lipoatrophie an
Wangen, Gesäß, Armen, Beinen; Fettüberschuß am Bauch, ggfs. Brustvergrößerung bei Frauen)
und häufig Stoffwechselstörungen (Fettstoffwechselstörungen: Triglyceride ↑, LDL ↑;
Hyperinsulinämie, pathologische Glukosetolerenz bis zum Diabetes mellitus, Hyperurikämie)
− prinzipiell unter jeder Medikamentenkombination möglich, gehäuft unter Proteaseinhibitoren, auch
unter NRTI und NNRTI: unterschiedlich ausgeprägt, aber synergistisch bzgl. der Lipodystrophie
− bei 30-50 % der Patienten, meist 10-15 Monate nach Therapiebeginn
− genaue Ursache unklar (Assoziation mit hochpotenter Virussuppression; Homologie zwischen
HIV-1-Protease und Schlüsselproteinen im Fettstoffwechsel)
− Die o.g. Stoffwechselstörungen ähneln dem metabolischen Syndrom => erhöhtes Risiko für
kardiovaskuläre Ereignisse incl. Myokardinfarkte.
− Therapie: schwierig, ggfs. Verzicht auf Proteaseinhibitor; reversibel sind v.a. Fettstoffwechselstörung
im Blut und Fettüberschuß am Bauch; jedoch kaum Besserung beim Fettverlust;
hinsichtlich des kardiovaskulären Risikos: Statine, Metformin, übrige Risikofaktoren optimieren.
mitochondriale Toxizität:
− NRTI hemmen nicht nur die virale Reverse Transkriptase, sondern auch die Gamma-Polymerase
des Menschen, die für die Replikation mitochondrialer DNA (mtDNA) essentiell ist => Störung der
mitochondiralen Atmungskette
− mitochondriale Toxizität ist dosisabhängig, zeitabhängig (üblicherweise erst nach langer NRTIExposition),
substanzabhängig (Didanosin > Stavudin > Lamivudin ≥ Abacavir ≥ Tenofovir ≥
Emtricitabin)
− Klinik: Steatose der Leber, Myopathie mit Muskelschwäche/Muskelschmerzen, ggfs.
Laktatazidose, Polyneuropathie, Lipoatrophie
− Maßnahmen: Absetzen/Umstellen der NRTI; Uridin oder seine Vorläufersubstanz Mitocnol
(Nahrungsergänzungsmittel NucleomaxX®) vermindern die mtDNA-Depletion
Unter ART kommt es zu einer Rekonstitution des HIV-assoziierten Immundefekts mit Lebensverlängerung.
Durch die gesteigerte Immunabwehr gegen persistierende Infektionen können aber auch
inflammatorische Krankheitsbilder i.S. eines Immunkonstitutionssyndroms (IRIS) entstehen. Dies
betrifft u.a. okuläre CMV-Infektionen, Tuberkulose, atypische Mykobakteriosen und Virushepatitiden (v.a.
Hepatitis C). Beachte Differentialdiagnose:
− opportunistische Infektion (=> spezifische Therapie notwendig, zudem Ausdruck einer unzureichenden
antiretroviralen Therapie)
− Hypersensitivitätsreaktion (=> Absetzen des auslösenden Pharmakons)
− Immunkonstitutionssyndrom (antiretrovirale Therapie wirksam)
Zunehmende Bedeutung von Nebenwirkungen unter ART, wobei mit dem Lipodystrophie-Syndrom
und dem metabolischen Syndrom neue klinisch relevante Krankheitsbilder entstanden sind. Zudem
kann es unter ART zu Immunkonstitutionssyndromen kommen, die von opportunistischen Infektionen
und Hypersensitivitätsreaktionen wegen unterschiedlicher Therapie abgegrenzt werden müssen.